top of page

Create Your First Project

Start adding your projects to your portfolio. Click on "Manage Projects" to get started

Rotes Kloster Wiesenburg

Projektart

Kurzgeschichte

Datum

April 2023

ROTES KLOSTER WIESENBURG
Die Erinnerung ist eine trügerische Diva, launisch, manipulierend und von äußeren Umständen abhängig. Trauen kann man ihr selten, und ab und zu muss man prüfen, ob das, was sie einem eingeflüstert hat, der Realität standhält.
So lässt mich die Erinnerung an einem strahlenden Herbsttag auf der Rückfahrt von Leipzig ins heimische Mecklenburg am Autobahnabzweig Wiesenburg den Blinker setzen und zwingt mich, die ich zumindest in den Jahren seit der Wende viele Dutzend Male standhaft an diesem blauen Schild vorbeigerauscht war, mein Auto durch den Fläming zu lenken, an eine Stätte, die ich für wenige Monate nur bewohnte; ein herrschaftliches, kaltes, distanziertes Schloss, das ich vergessen wollte.
Ich zählte 14 Lenze, als ich diesen Weg zum ersten Mal einschlug, freiwillig, in freudiger Erwartung, als Auserwählte, die ihrer guten Leistungen wegen diese spezielle Schule besuchen durfte, um von Muttersprachlern ausgebildet und auf ein Russischlehrerstudium vorbereitet zu werden.
In meiner Erinnerung trug der Park von Wiesenburg dasselbe gelborange Herbstlaub wie gestern, als ich den Wagen auf dem dafür vorgesehenen Parkplatz zum Stehen bringe, aber schon hier wird mir klar, dass dies nicht stimmen kann: das Schuljahr begann damals immer im Spätsommer, im September, und meine Eltern hatten später erzählt, dass sie an diesem 1. September der ganzen Aufregungen wegen ihren eigenen achtzehnten Hochzeitstag vergessen hatten. Ihre Hochzeit war ursprünglich am 13. August geplant gewesen, damals, 1961, und musste dann verschoben werden, aber das ist schon wieder eine andere Geschichte.
Die prächtigen alten Bäume, die den Pfad zum Schloss säumen: sie schienen mir früher nicht so erhaben, wenn wir im Sportunterricht unter ihnen vorbeischnauften, mit der Zeit im Nacken. Diese hölzernen Brücken und die Trauerschwäne: gab es die damals auch schon?
Die Teichlandschaft: war sie so verschlungen und verbunden vor vierzig Jahren? Die Blumenrabatten: waren sie so kunstvoll angelegt?
Nun öffnet sich der Blick, und da ist es wieder, das Schloss, die Trutzburg, das rote Kloster, die Verbannung. Ich lese auf einem Schild die Geschichte des Grafen von Watzdorf, der hier einen englischen Landschaftspark anlegte, das Schloss im Stil der Neorenaissance umgestaltete. Nie gehört, diesen Namen. Oder nur verdrängt? Im Sozialismus hielt man nichts vom Adel und anderen ausbeutenden Klassen, schon möglich, dass man sich ausschwieg über derlei historische Hintergründe.
Ich bewundere den englischen Gartenteil, der symmetrisch mit Herbstblumen bepflanzt und am Rand durch eine Tuffsteinreihe begrenzt wird, umrunde das Schloss, vorbei an kleinen weißen emaillierten Schildern, die auf botanische Besonderheiten hinweisen, und stehe schließlich vor dem Torhaus, das den alten Burgfried mit dem Schlosstrakt verbindet. Das Tor selbst ist verschlossen, aber davor weist ein Zettel an einer weit geöffneten Seitentür auf die Möglichkeit hin, das kleine Museum und den Turm zu besichtigen. Ich setze meine Maske auf und folge der Einladung, besteige den Turm, von dem aus man weit in die Landschaft des Fläming und in den Innenhof des Schlosses schauen kann. Als ich wieder herabsteige, steht das Tor einen Spalt offen und ich schlüpfe hinein in den Hof. Ja, hier erkenne ich mich wieder: als 14jähriges spindeldürres Gör, das mit den 120 anderen Schülern zum Fahnenappell aufgeregt aufgereiht den Worten des Direktors lauscht. Worten von der Ehre, an dieser ruhmreichen Schule lernen zu dürfen, der Erich Weinert, ein Spanienkämpfer und Schriftsteller, seinen Namen gab. Von der ruhmreichen Sowjetmacht, die Deutschland befreite und deren Sprache zu lernen uns Verpflichtung sein soll. Von einer glänzenden Zukunft, die uns Mädchen (und die Handvoll Jungen) erwartete. Ich sehe mich im Zimmer, das in der oberen Etage zwischen dem Turmzimmer und dem Bergfried mit drei Doppelstockbetten, sechs Spinden, einem großen Tisch mit sechs Stühlen und keinerlei Privatsphäre ausgestattet, meine neue Heimat werden sollte, und es doch nicht wurde. Ich sehe mich in den dunkelgetäfelten, düsteren Salons, die nun Klassenräume waren, und in den Sprachkabinetten über dem üblichen Schulstoff der 9. Klasse und dem zusätzlichen intensiven Russischunterricht büffeln. Vokabeln über Vokabeln, sechs Fälle, Verlaufsformen. Manches kann ich noch herbeten. Ich sehe mich im Fernsehraum mindestens dreimal wöchentlich die Aktuelle Kamera verfolgen und ein weiteres politisches Magazin, pflichtgemäß, unter Überwachung des FDJ-Sekretärs der Klasse. Karl Eduard von Schnitzler bis zum Abwinken. Noch heute habe ich diese Musik im Ohr, den schwarzen Bundesadler auf der Antenne vor Augen. Auf dem Sportplatz sehe ich mich, wie ich bis in den November hinein mit kurzen Hosen über die Aschenbahn sprintete, denn lange Hosen durfte nur tragen, wer seine Tage hatte, und welches 14jährige Mädchen ging schon vor der Sportstunde zum Lehrer und beichtete dies, wie peinlich! Ich sehe mich in meinen Zweifeln, ob ich dieses Mädchenpensionat, das spöttisch rotes Kloster genannt wurde, wirklich vier Jahre lang aushalten könnte, immer im Kollektiv, niemals allein. Ob ich diese glänzende Zukunft, in der wir Schüler unterrichten und auf den Weg in den Kommunismus begleiten sollten, wirklich wollte, ob Lehrerin überhaupt der richtige Beruf für mich wäre. Du musst dich durchbeißen, hatte mein Vater gesagt, das Leben sei hart, meinte er, ich solle nicht so eine Mimose sein. Wie ich diese Sprüche damals hasste!
Meine Stimme, die zu streiken begann, mit ständiger Heiserkeit infolge des intensiven Sprachunterrichts, nahm mir eine Entscheidung ab: für das Lehrerdasein wäre ich nicht nur nicht geeignet, sondern völlig ungeeignet, beschied mir ein Logopäde. Die zweite Entscheidung fällte ich selbst und lehnte die Offerte, trotzdem die Schulausbildung bis zum Abitur in Wiesenburg fortzusetzen, ab. Ich kehrte nach Hause in den Schoß der Familie zurück und war zum ersten Mal gescheitert. Es machte mir nichts aus, ich wertschätzte fortan nicht nur das ganz banale Familienleben, sondern auch die Möglichkeit, mich zurückzuziehen zu können, über eine Privatsphäre zu verfügen und nach der Aktuellen Kamera auch die Tagesschau sehen zu können. An den Sozialismus glaubte ich trotzdem noch, auch die russische Sprache war mir in Wiesenburg nicht verleidet worden. Immerhin.
An der Schänke vorbei spaziere ich wieder in den Park zurück, registriere flüchtig den vollen Parkplatz davor und einige Oldtimer, aber ich achte weder auf Typ noch Kennzeichen. Schnellen Schrittes folgt mir jemand, und als ich mich an der Terrasse umdrehe, nehme ich einen aristokratisch anmutenden älteren Herrn um die 70 mit Glatze wahr, mit einem Gehrock aus rotbraunem Tweed, einem weißen Hemd mit einem Tab-Kragen, der völlig aus der Zeit gefallen schien, einer straff gebundenen weinroten Krawatte. Er spricht mich an: ob ich mit einem Handy umgehen könne. Ich frage mich amüsiert, ob ich jetzt schon so alt aussehe, dass eine solche Frage berechtigt wäre, aber dann nicke ich lächelnd und er drückt mir sein Smartphone in die Hand, damit ich ein Foto von ihm aufnehmen kann. Aufrecht wie Soldat stellt er sich in Position, lässt sich vor dem Schloss und dann vor den Rabatten fotografieren, fragt mich schließlich nach meiner Beziehung zu diesem Ort. Ich bin hier einige Monate zur Schule gegangen, vor 40 Jahren, erkläre ich ihm. Seine braunen Augen unter buschigen Brauen werden groß und rund: tatsächlich? Was für eine Schule war das? Erzählen Sie! Ich erkläre es ihm: eine erweiterte Oberschule mit Internat zur Vorbereitung auf ein Russischlehrerstudium, ein Mädchenpensionat mit einigen Alibi-Jünglingen, denn welcher Junge wollte schon Russischlehrer werden und wusste dies schon in der achten Klasse; und eine intensive Rotlichtbestrahlung gab es obendrein. Seine Augen werden noch größer und noch runder. Rotlicht? Um Gottes Willen, wie das denn? Welche Grausamkeit! Erst da erkenne ich, dass er mit diesem Bild nichts anfangen kann und lache schallend. Nicht physikalisch, sondern ideologisch sei es gemeint, und er stimmt erleichtert in mein Lachen ein. Ach, solche Art von Rotlicht, ein indoktrinierendes also, kichert er… Dann will er wissen, was aus der kleinen rotbelichteten Schülerin schließlich wurde, und ob sie noch Russisch beherrschen würde. Letzteres kann ich zumindest teilweise bejahen, und er erzählt mir, dass er Koch sei, lange in England gelebt hat und neben der Queen auch Russen wie Ustinow und Nurejew bekocht hat, allerdings ohne ein Wort in deren Muttersprache zu kennen. Als er erfährt, dass ich Landwirtin bin, in Mecklenburg, auf einem Hof mit Milchvieh, ist er begeistert. Er selbst stammt von einem kleinen 10-Hektar-Hof mit 15 Kühen, aus dem Sauerland, hat aber wegen eines prügelnden Stiefvaters die erstbeste Möglichkeit ergriffen, seine Heimat zu verlassen. Und über das englische Königshaus und viele, viele Zwischenstationen hat ihn sein Weg nun heute mit Gleichgesinnten in englischen Oldtimern in diesen englischen Garten geführt! Und er trifft eine ehemalige Schülerin dieses Schlosses, die sich hier mit Russisch und anderen Fächern abplagte! Verrückt!
Wir plaudern noch ein wenig hin und her, über Rübenhacken, Kühemelken, Kochgeschirr aus Kupfer und Silber, und dann muss er zu seiner Reisegesellschaft zurückeilen. Er winkt mir noch kurz zu, dreht sich schwungvoll um, mit wehenden Schößen seines Gehrocks, ein Koch mit der Anmutung eines Grafen, und dann verschwindet er aus meinem Blickfeld. Eine unerwartete Erscheinung, die mir zeigt, wie das Leben auch sein konnte, damals, nach dem Krieg, und die mich auch wieder versöhnt mit meiner eigenen Geschichte, mit diesem Schloss, mit dem ich lange gehadert habe. Die Freiheit, die uns vor dreißig Jahren geschenkt worden ist, führt jetzt zu Begegnungen, die zu meiner Schulzeit nicht träumbar waren. Welche Epochen haben sich heute hier gekreuzt! Ein alter Burgfried aus dem 13. Jahrhundert, ein Schloss mit einem englischen Landschaftsgarten aus dem 19. Jahrhundert, eine besondere Schule aus dem 20. Jahrhundert, aus einem besonderen Teil von Deutschland, ein Junge aus dem Sauerland, der in den Nachkriegsjahren nach England auszog, um Koch zu werden, eine Bäuerin, die im 21. Jahrhundert ihre Tochter nach Leipzig gebracht hat und auf der Rückfahrt Erinnerungen auffrischt… Ohne einen Russen namens Gorbatschow, der mit seiner Perestroika den Stein anstieß, wäre das alles nicht möglich geworden! Ich werde am Abend einen Wodka darauf trinken!
Nachdenklich spaziere ich über die beiden Holzbrücken an den Schwänen und der Liebesinsel vorbei, bestaune die alten Bäume in ihrer Herbstpracht, und als ich in mein Auto einsteige, fährt auf der Landstraße ein Konvoi aus Oldtimern vorbei, aus denen ein englischer Koch seinen Hut schwenkt und mir zuwinkt…

bottom of page