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Eine kleine Halloween-Geschichte

Projektart:

Kurzgeschichte

Datum

Herbst 2021

Standort

Mecklenburg

EINE HALLOWEEN-GESCHICHTE FÜR KLEINE UND GROSSE KINDER
„Ich hasse Corona! Und ich hasse dich, Opa!“
Wütend knallte Pia die Tür hinter sich zu, warf sich auf das Bett des Gästezimmers und ließ ihren Tränen freien Lauf. Hier roch es noch nach der Oma, die im vorigen Jahr gestorben war. Das machte sie noch trauriger. Offenbar benutzte der Großvater denselben Weichspüler oder der Vorrat war noch nicht aufgebraucht; in dieser Einöde konnte man nicht mal eben in den Supermarkt gehen und einkaufen, sodass die Großeltern immer alles im Zehnerpack kauften, egal ob Waschmittel oder Mehl oder Nudeln. Draußen ging die Sonne langsam unter und warf die Schatten der Baumkronen bis in das Zimmer. Der Wind spielte mit den letzten Blättern, die dem Herbstwind widerstanden hatten, und ließ die Zimmerdecke erzittern. Pia umklammerte das alte abgewetzte Plüschkrokodil, das schon ihrer Mutter gehört hatte, und haderte mit sich und der Welt. So ein winziges Virus, das man nicht einmal sehen konnte, hatte ihre ganzen schönen Ferienplanungen über den Haufen geworfen. Der Vater in Berlin, bei dem sie eigentlich die Ferien verbringen sollte, saß wegen Quarantäne in seiner Wohnung fest, nachdem bei einem Arbeitskollegen der Virustest positiv ausgefallen war. Die Mutter in Rostock konnte als Krankenschwester auf der Intensivstation der Universitätsklinik nicht frei nehmen und wollte Pia nicht tagsüber allein lassen, obwohl diese als Drittklässlerin schon sehr selbstständig war. So hatte sie der Großvater abgeholt, mit seinem klapprigen alten Landrover, und mit nach Hause auf seinen Hof genommen, wo sie im Nirgendwo zwischen Rostock und Berlin nun weder mit ihrer Freundin morgen im Halloweenkostüm um die Häuser ziehen noch mit ihrem Vater eines der tollen Museen in der Hauptstadt besuchen konnte. Es war zum Mäusemelken!
„Pia“, meldete sich der Großvater vor der Zimmertür, „ich muss noch in den Stall schauen. Wenn ich zurück bin, mache ich uns Bratkartoffeln, okay?“ Er wartete die Antwort nicht ab und ging festen Schrittes über den Hof zum Stall hinüber, in dem seine Mutterkühe gestern das Winterquartier bezogen hatten. Immerhin hatte er anscheinend seiner Enkelin die wütenden Äußerungen nicht übelgenommen. Pia seufzte. Wenn doch die Oma noch am Leben wäre… Oma Heidi war eine lebenslustige und fröhliche Frau gewesen, die mit ihr in den Ferien loszog zum Heidelbeeren pflücken oder zum Baden im nahegelegenen See, die ihr aus alten Kinderbüchern vorlas, mit ihr Eichelmännchen bastelte oder einen Kuchen buk. Der Opa dagegen war schon immer ein bisschen kauzig, wie Petterson, nur ohne Findus, und er sah auch beinahe so aus, bis auf die Nickelbrille, die er nicht brauchte, denn der Opa besaß Augen wie ein Adler, scharf und kritisch.
Inzwischen war es dunkel geworden und Pia ging fröstelnd in die Küche. Hier loderte ein Feuer im Kaminofen und auf dem großen Esstisch stand ein Topf mit gepellten Kartoffeln. Pia fühlte sich einsam und zog das Handy aus der Tasche, das sie vom Vater zum letzten Weihnachtsfest bekommen hatte, damit sie ihn jederzeit anrufen könne. Sie sah auf das Display. Mist! Kein Netz! Sie hatte es vergessen, dass es hier, beim Großvater in dem winzigen Dorf, weder ein Mobilfunknetz noch einen vernünftigen Internetanschluss gab. Das würde ein völlig belämmerter Ferienaufenthalt werden, wenn sie nicht einmal ihrer besten Freundin Jojo eine Nachricht schreiben konnte! Die Wut darüber wich einer Traurigkeit, die sie allein nicht aushalten konnte. So griesgrämig und wortkarg der Opa auch war, in seiner Gesellschaft im Stall erschien es ihr angenehmer als hier im Haus allein. Nicht einmal der Kater Schnurr war zu sehen, der sonst auf einem Küchenstuhl seinen Stammplatz einnahm. Pia nahm ihren Anorak vom Haken und schlüpfte in die Cowboystiefel, die ihr der Vater zum Geburtstag geschenkt hatte. Im Stall fand sie den Opa über eine braune Kuh gebeugt. „Ach, Pia“, erklärte er, „hier stimmt etwas nicht. Sie hat gestern gekalbt, aber sie ist noch nicht aufgestanden, obwohl der Tierarzt schon zweimal hier war. Für ihr Kälbchen hatte ich noch eingefrorene Milch, so dass es nicht hungern musste, aber nun sollte es langsam an das Euter können. Das Kalb, ein kleines Mädchen, lag neben der Kuh im Stroh der kleinen Box, die vom Rest des Stalles abgetrennt einem kranken Rind Schutz und Ruhe bot. Die Kuh war eine Nachzüglerin, die lange nicht tragend geworden war, erklärte ihr der Opa. Pia mochte die Rinder, ihre hellbraune Fellfärbung. Uckermärker hieß die Rasse; die Mutter hatte ihr in einem Buch die verschiedenen Kühe gezeigt und auch erklärt, wie sie gezüchtet wurden, aber Pia hatte es vergessen. Sie setzte sich auf einen Strohballen und streichelte das Kalb, das sich mit seinen staksigen Beinen erhob und zu bölken begann. Hatte es Hunger? Der Opa nickte. „Ich werde ihm Milch aus Milchpulver anrühren, das mag es. Und du kannst ihm die Flasche geben!“ Er stapfte ins Haus und kam eine Viertelstunde später mit einer riesigen Plastikflasche voller Milch zurück. Er zeigte Pia, wie sie das Kalb tränken könne, und das Tier fing sofort gierig an, an dem roten Nuckel zu saugen. Pia lachte und freute sich, dass es der Kleinen zu schmecken schien. Überhaupt war ihr nicht mehr so traurig zumute. Nachdem das Kalb die ganze Flasche geleert hatte, ließ es sich zufrieden ins Stroh sinken. „Siehst du, Pia, es hat sein Abendbrot gehabt. Wir machen jetzt das Licht aus und gehen auch essen.“
Die Bratkartoffeln schmeckten ganz passabel, genauer gesagt mit einer großen Portion Ketchup obendrauf sogar sehr lecker. Der Großvater zauberte sogar einen Becher mit Kinderjoghurt aus dem Kühlschrank und ließ sie im Fernsehen noch einen Film über die Alpen ansehen, ehe sie ins Bett musste. Es wäre beinahe sogar gemütlich geworden, hätte Pia nicht noch die Sprache auf Halloween gebracht. „Pia, das ist eine amerikanische Unsitte! Ein Trick der kapitalistischen Süßwarenindustrie, mehr nicht! Lass uns jetzt schlafen gehen! Morgen früh müssen wir gleich nach Kuh und Kalb sehen.“
Am nächsten Morgen wurde Pia vom Geräusch des Traktors geweckt, mit dem der Opa den Kühen Futter brachte. Sie lief in die Küche, wo sie auf einem blaugepunkteten Teller zwei halbe Brötchen mit Butter und Honig fand und schnell verschlang. Mit Jacke und Stiefeln lief sie in den Stall, vorbei an dem großen Nussbaum, der über Nacht die Hälfte der Blätter und noch ein paar letzte Nüsse abgeworfen hatte. Das Kalb sprang munter und unternehmungslustig durch das Stroh der Buchte. Aber was war mit der Mutter? Sie lag still daneben, rührte sich nicht. Der Großvater kam angelaufen. „Pia, nun haben wir ein Waisenkind. Die Kuh ist wohl gestern Abend noch gestorben. Sie fühlte sich heute früh schon ganz kalt an.“ Er strich dem Tier noch einmal über den Kopf. „Schade! Aber auch ein Tierarzt kann nicht immer helfen. Die Natur ist eben manchmal sehr unfreundlich. Und alles, was lebt, muss auch irgendwann sterben. Das weißt du ja schon.“ Dann sah er, dass Pia die Tränen kamen und versuchte, sie abzulenken. „Hier, Pia, ist die Nuckelflasche. Du bist ja schon groß, oder? In der Küche steht die Dose mit dem Milchpulver. Davon gibst du einen Messbecher voll in die Flasche, dann füllst Du zur Hälfte mit warmem Wasser auf und schüttelst kräftig. Dann füllst du den Rest wieder mit warmem Wasser auf und schüttelst wieder, und dann fütterst du das Kalb. Und du musst ihm noch einen Namen geben!“
Während Pia seinen Anordnungen folgte, zog er mit dem Frontlader die Kuh aus dem Stall, legte sie unter den Nussbaum und deckte sie mit einer Plane ab. Für so ein Mädchen war es vielleicht zuviel mit dem Tod. Heidi, die Großmutter, sie fehlte. Auch nach einem Jahr noch.
Pia kam aus dem Haus zurück, tränkte das Kalb, das gierig nuckelte. „Es soll Melli heißen, denn die Farbe sieht aus wie Karamell!“ Der Opa grinste. „Okay, das ist ein schöner Name! Und weißt du, was wir nachher machen? Wir gehen in die Pilze! Es hat in den letzten Tagen so viel geregnet und heute scheint die Sonne und die Luft ist mild! Es müsste doch mit dem Teufel zugehen, wenn wir keine Pilze finden würden!“ Er holte zwei Spankörbe aus dem Schuppen, gab Pia ein kleines Taschenmesser, und dann wanderten sie an den Koppeln vorbei einen Kilometer bis zum Wald.
Im Wald erklärte der Großvater Pia, an welchen Stellen es sich lohnte, langsamer zu gehen und zu gucken. „Hier, unter den großen Kiefern findet man oft Maronen. Besonders, wenn dort Moos wächst. Und wenn du dich hinhockst, bleib ruhig eine Weile dort unten und sieh dich um! Aus dieser Perspektive kann man oft gleich noch die nächsten Pilze entdecken!“
Und siehe da: Pias Korb füllte sich sogar schneller als der des Opas. Fast immer, wenn sie einen Röhrling gefunden hatte, rief sie „Oh, da ist noch einer! Und dort auch! Und dort!“
Der Opa schmunzelte. „Das ist wie bei Maschenka und Daschenka.“ „Wer ist das?“, wollte Pia wissen.
„Als deine Mama klein war, gab es im Fernsehen so einen russischen Märchenfilm, in dem zwei Mädchen ebenfalls Pilze suchten und schnell fündig wurden, genau wie du jetzt. Sie hießen Maschenka und Daschenka, also eigentlich Mascha und Dascha, nur eben in der Verniedlichungsform. Das ist etwa so, als wenn ich dich Pialein nennen würde.“
Pia staunte über seine Gesprächigkeit. So hatte sie ihn selten erlebt, schon gar nicht seit dem Tod der Oma, die ihn vorher oft aus der Reserve gelockt hatte. Ach, komm, Peter, nun sei nicht immer so griesgrämig, hatte sie ihn oft geneckt und er hatte ihr immer eine Kusshand zugeworfen, ganz altmodisch, aber wie ein Junge spitzbübisch gegrinst.
Als die Körbe gefüllt waren, stand die Wintersonne schon im Zenit, und Pia knurrte der Magen. Der Großvater schlug vor, nach Hause zurückzukehren und schnell einen Grießbrei zu kochen, mit Zimt und Zucker oder mit Apfelmus, zur Feier des Tages, schließlich wäre ja Halloween und da gäbe es Süßes. Die Pilze würde er zum Abendessen kochen. Nach dem Mittagessen musste das Kalb wieder getränkt werden, das konnte Pia nun schon allein. Ab morgen sollte sie versuchen, das Tier an einen Nuckeleimer zu gewöhnen. Der konnte einfach an die Buchtentür gehängt werden und man müsste nicht die ganze Zeit bei Melli stehenbleiben. Wenn Pia in ein paar Tagen wieder in die Schule müsste, hätte er es so leichter.
Als Pia aus dem Stall zurückkehrte, war der Opa am Telefonieren. Mit einem Handy, einem neuen, mit Bildschirm! Donnerwetter! Sie kannte sonst nur sein altes altmodisches Tastenhandy, denn für solchen neumodischen Kram hatte er sonst nichts übrig. Der Opa lachte am Telefon, sie hörte ihn sagen, dass er Kürbissuppe nicht mochte und deshalb diese orangefarbenen Dinger nicht im Haus hatte. Nein, und im Garten auch nicht. Sie sah ihn an. Sein Gesichtsausdruck war anders als sonst, weicher. Und jetzt fiel ihr auf, dass auch sein Haar akkurat geschnitten und der Bart ordentlich gestutzt waren. Tauchte er langsam aus der Verwahrlosung, wie ihre Mutter es genannt hatte, auf? Gestern hatte er das Radio angeschaltet gehabt, obwohl er doch sonst immer behauptet hatte, er wolle seine Ruhe haben und das Gedudel würde ihn nerven. Seltsam. Der Opa verabschiedete sich aus seinem Gespräch und wandte sich ihr wieder zu. Wenn sie Lust hätte, könne sie ja nachsehen, ob es im KIKA etwas für sie gäbe, zu Halloween. Er würde derweil die Pilze putzen. Das ließ sich Pia nicht zweimal sagen, sie lief in die Stube und schaltete sich den Fernseher an. Es war zwar nur ein Ersatz für das Um-die-Häuser-Ziehen mit Jojo, aber ein ziemlich guter. Vielleicht würden die Ferien nun doch nicht so belämmert wie ursprünglich gedacht.
Sie sah sich einen Film an und dann noch einen zweiten. Langsam wurde es ihr unheimlich. Draußen war es schon dunkel geworden. Hatte der Opa sie vergessen? Sie lief in die Küche, aber dort brutzelten nur ganz sachte die Pilze auf dem Herd. Es roch verführerisch. Sicher war der Großvater nur schnell in den Stall gegangen, sie sah jedenfalls das Licht durch die Scheiben fallen. Schnell schlüpfte sie in ihre Cowboystiefel und warf sich die Jacke über, als ein boshaftes und lautes Kichern auf dem Hof sie zusammenschrecken ließ. Pia öffnete die Tür einen Spalt weit und bemerkte vier Lichterfratzen, die den Weg zum Stall beleuchteten. Schaurige Gestalten, huh! Und dann sah sie ganz schnell ein Gespenst in einem weißen Gewand davonlaufen, dabei immerzu „Süßes und Saures, Süßes und Saures!“ rufen. Gellend schrie Pia auf und sah erleichtert den Opa aus der Stalltür treten und auf sie zu eilen. „Opa, da ist ein Gespenst, siehst du es?“ Der Opa schüttelte den Kopf. „Nein, aber gehört habe ich es noch. Es rief irgendwas mit Süßem und Sauren. Ich dachte immer, hier bei uns in der Pampa gäbe es solche kapitalistischen Werbekampagnen für die Süßwarenindustrie nicht!“ Er nahm Pia, die wie Espenlaub zitterte, auf den Arm. „Siehst du, nun hattest du sogar ein echtes Gespenst hier! Das ist doch spannender als bei euch in Rostock, oder? Und sieh mal, was das Gespenst hier auf das Fensterbrett gelegt hat! Wirklich Süßes und Saures! Das gibt es ja nicht!“ Er setzte Pia auf die Türschwelle und griff nach einem Glas Spreewaldgurken und einer Schachtel mit Schaumküssen. Außerdem gab es noch ein paar Gummiteile in Form von Glubschaugen. Pia staunte Bauklötze. Das waren ja genau die Lieblingsgurken des Opas! Und die Lieblingsschaumküsse der Oma, die Grabower mit dem Zipfel! Das ging ja wohl nicht mit rechten Dingen zu!
Als sie in die Küche gingen und die Geschenke auf den Tisch stellten, zwinkerte der Opa im Vorbeigehen dem Foto der Oma zu, und dabei erschien er Pia zum ersten Mal seit langem nicht mehr traurig zu sein. Und wenn Pia es recht überlegte, waren es auch keine Kürbislaternen, die den Weg zum Stall beleuchteten, sondern ausgehöhlte Runkelrüben, wie sie vom Opa für die Kaninchen angebaut wurden. Und als der Opa ihr auch noch eröffnete, dass es einen Internetrouter im Haus gibt und ihr das Passwort aufschrieb, damit sie mit ihrer Freundin Jojo chatten konnte, dachte Pia, dass dies das schönste Halloweenfest war, das sie je erlebt hatte, und dass sie schon noch herausfinden würde, wer die Frauenstimme war, mit der er gestern telefoniert hatte,…

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