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Die Rentiere sind krank - Eine etwas andere Weihnachtsgeschichte

Weihnachten naht mit großen Schritten. Es ist die Zeit der Geschichten und der Wunder. Diese kleine Geschichte stammt noch aus der Corona-Zeit, hat aber an Gültigkeit und Zauber nichts verloren:

Die Rentiere sind krank – eine etwas andere Weihnachtsgeschichte

Es war der Abend vor dem Weihnachtsabend. Schnee gab es, wie auch in den letzten Jahren, nicht, dafür brachte die nasskalte, nieselige Luft die Menschen zum Frösteln. Bauer Bruno saß nach dem Melken in seiner Küche, trank einen duftenden Apfelpunsch, schnitt sich von einem runden Brotlaib eine dicke Scheibe ab, bestrich sie mit Butter und Leberwurst, klappte sie zusammen und biss herzhaft hinein. Dann vertiefte er sich, die Stulle in der Hand, in die Zeitung, ohne den großen Fettfleck zu beachten, der sich im unteren Drittel des Blattes ausbreitete. Kultiviert war das nicht, natürlich nicht, das wusste er selbst, aber seit seine Frau im letzten Jahr plötzlich gestorben war, ließ er sich oft etwas gehen und versank in der Traurigkeit, zumal jetzt auch noch eine rätselhafte Krankheit den Menschen das Leben erschwerte. Tristesse allerorten, es gab keine Feiern, keinen Tanz, kein Theater oder Kino. Nicht dass er ein großer Theatergänger war oder häufig das Tanzbein schwang – aber allein die Möglichkeit, es zu können, verschaffte ihm ein Gefühl von Freiheit, das ihm nun fehlte. Bauer Bruno schaltete das Radio an und hörte die Jazztime, die ihm immer am Dienstagabend die Zeit versüßte, seit er allein war und mit der Gesellschaft von Hund Ilonka und Kater Igor vorlieb nehmen musste. Die beiden Moderatoren der Sendung suchten nicht nur interessante Aufnahmen aus dem Musikfundus heraus, sondern witzelten sich äußerst unterhaltsam durch die Jazzgeschichte und brillierten zwischendurch selbst an Saxophon und Klavier. Bruno ließ sich mitreißen und pfiff leise die Melodien mit.
Plötzlich wummerte es an die Tür. Wer sollte das denn jetzt sein, um diese späte Stunde? Die Kinder wollten erst am ersten Weihnachtsfeiertag kommen, war etwa etwas passiert?
Bauer Bruno knipste das Hoflicht an und öffnete die Haustür. Potzblitz, rieb er sich die Augen, das gab es ja gar nicht, da stand der Weihnachtsmann! Ein leibhaftiger Weihnachtsmann, mit einem weißen Bart, einem roten Mantel und schwarzen Stiefeln über einer weiten roten Hose. „Cooles Kostüm“, meinte Bruno, „was schickt dich denn hierher in meine Einöde?“ Brunos Hof lag nämlich etwas abseits des Dorfes an einem kleinen Teich, weitab von allem Trubel dieser Welt.
„Hmh“, räusperte sich der Weihnachtsmann, „das ist kein Kostüm, sondern meine Dienstbekleidung. Aber ich habe ein großes Problem. Meine Rentiere scheinen krank zu sein, alle sieben, und am heftigsten scheint es Rudolf erwischt zu haben. Ob du vielleicht mal mitkommen könntest, um sie dir anzusehen? Du wohnst am dichtesten an uns dran und du hast Ahnung von Tieren, deshalb frage ich dich als erstes. Außerdem drängt die Zeit, denn morgen muss ich durch die ganze Welt reisen und die Geschenke verteilen.“ Bauer Bruno kratzte sich am Kopf und überlegte. Bisher hatte er immer gedacht, dass die Geschichte vom Weihnachtsmann ohnehin nicht stimmte. Und wieso sieben Rentiere? Waren es nicht eigentlich neun? Aber nun stand ein Mann vor ihm, der wirklich so aussah wie ein Weihnachtsmann und der echt zu sein schien und der Hilfe brauchte! „Wo hast du denn die Rentiere jetzt?“, wollte er wissen. „Dort hinten, mitten im Wald“, zeigte der Weihnachtsmann unbestimmt nach Norden. „Wir müssen uns beeilen, steig in meine Kutsche, Bruno!“ Energisch schob der Weihnachtsmann Bauer Bruno in seine Kutsche, die wie ein Trabi aussah, nur ohne Dach, und richtig gemütlich war es auch nicht darin, aber die Geschwindigkeit, die sie damit erreichten, war atemberaubend. In Nullkommanichts schwebten sie über den Hof und den Wald dahin, bis zu einer Lichtung, auf dem ein kleines reetgedecktes Haus und eine große weißgekalkte Scheune standen. Sanft landete die Kutsche auf dem Hof und der Weihnachtsmann zog Bauer Bruno in die Scheune. Hier lagen die Rentiere im weichen Stroh. Sie husteten und schnieften um die Wette, bei allen glühten die Nasen rot vom Fieber. Am schlimmsten hatte es Rudolf erwischt, dessen rote Nase auf Fußballgröße angeschwollen war. Bauer Bruno besah sich jedes einzelne Tier, maß mit einem mitgebrachten Thermometer Fieber und schüttelte schließlich den Kopf: „Weihnachtsmann, Weihnachtsmann, das wird nichts mit dem Schlittentransport an Heiligabend. Keine Ahnung, ob sich auch deine Rentiere dieses merkwürdige Curuna-Virus eingefangen haben, aber es sieht auf alle Fälle sehr ernst aus und sie müssen sich mindestens eine Woche lang schonen und hier in Quarantäne bleiben!“
„Oh Gott“, schüttelte der Weihnachtsmann traurig und den Tränen nah den Kopf. „Ausgerechnet in diesem Jahr, wo die Kinder es schon schwer haben in der Kita und in der Schule, und sehnsüchtig auf ihre Geschenke warten… Was soll ich denn jetzt tun, Bauer Bruno?“
Bruno überlegte. „Tja, Weihnachtsmann, mit Rentieren kann ich dir nicht aushelfen. Ich kenne mich nur mit schwarzbunten Kühen aus. Aber vielleicht passen auch Kühe in das Geschirr? Warum sollten sie nicht auch einen Schlitten ziehen können? Rudita, Ursula, Dorle, Olina, Litburga, Pirutta und Halina sind immer die ersten im Melkstand, die anderen hundert kommen erst hinterher. Aber die sieben wären morgen Nachmittag um drei fertig und könnten dir bis zum nächsten Morgen helfen.“
Der Weihnachtsmann bekam glänzende Augen: „Wirklich, Bauer Bruno, würdet ihr das tun? Das wäre ja wundervoll!“ Dann fiel ihm ein, dass die Rentiere deshalb so schnell waren, weil ihnen in der Weihnachtsnacht Flügel wuchsen. Ob das bei den Kühen auch möglich war? Den Weihnachtsmann befielen Zweifel. Ohne Flügel war das Pensum niemals zu bewältigen! Aber Bauer Bruno, den er in seine Befürchtungen einweihte, hatte auch hier eine rettende Idee: „Das ist ganz einfach! Wir holen uns Federn von unserem Nachbarn, dem Hühnermäster und Entenhalter Bauer Dirk. Der kann uns bestimmt helfen!“
Und so geschah es, dass am Ende sieben geflügelte Kühe den Schlitten des Weihnachtsmanns zogen, alle Kinder reichlich beschenkt werden konnten und niemand merkte, dass es in diesem Jahr Probleme gab. Nur der kleine Leon, der die Gardine beiseite zog und aus dem Fenster sah, nachdem es an der Tür geklopft hatte und ein großer brauner Jutesack davor zu finden war, wunderte sich, dass in der Ferne vor einem großen Schlitten schwarzbuntes Kuhfell hervorblitzte. Als er seinem Vater davon erzählte, glaubte dieser ihm zuerst kein Wort, aber dann fiel ihm ein, dass in der Weihnachtsnacht manchmal Wunder geschehen können, und warum sollten in diesen verrückten Zeiten die Rentiere nicht auch einmal ein Kuhfell tragen?
Bauer Bruno hatte unterdessen den Weihnachtsabend verschlafen und fragte sich am Morgen, ob das alles nur ein Traum gewesen war. Rudita, Ursula, Dorle, Olina, Litburga, Pirutta und Halina lagen entspannt in ihren Liegeboxen, neben den anderen hundert, käuten wieder und erhoben sich gemächlich, als er die Tür zum Melkstand aufschloss.
Mitten auf der Futterdiele lag ein Bündel weißer Federn…


©Heike Müller

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